© Atelier Petra Halwachs
Alice Harmer geb. 20. 12. 1945 in Mönchhof, Bgld., lebt seit 1959 in Wien.
Berufe: Rechtsanwaltsgehilfin, Mutter, Verkäuferin, Hubstaplerin, Kulturarbeiterin, Illustratorin, Büchermacherin, Verlegerin, Mitarbeiterin der IG Autorinnen Autoren.
Seit 2000 freischaffende Zeichenschreiberin.
Mitglied der IG Autorinne Autoren und der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.
Zahlreiche grafische und literarische Beiträge in Anthologien, zuletzt in
„Edle Dichtung“, Das fröhliche Wohnzimmer 2018;
„Jahrbuch österreichischer Lyrik“, Verlag Sisyphus 2019.
Bücher:
„seidenweich gefaltet oder durchgeätzt“ (mit Barbara Mehlstaub), edition aha, Wien 1994;
„einStrich“, WortBilder, edition aha, Wien 1995;
„Oma Drachin“, Kinderbuch, mit Zeichnungen, edition aha, Wien 1996;
„Haut und Feld“, Lyrische Prosa, BONsai-typART, Berlin 1997;
„lieber Blumen in der Hand als auf dem Grab“, Gedichte, edition lex liszt 12, Oberwart 2017;
„Die Farbe der Veränderung“, Trilogie, Lyrik Prosa, edition lex liszt 12, Oberwart 2018.
2014: Literaturpreis des Landes Burgenland.
2017: Literaturstipendium der Stadt Wien, MA 7, Kultur.
2017/18: Projektstipendium Bundeskanzleramt Österreich Sektion Kunst und Kultur.
In Arbeit:
„Auf dem Dach ist die Aussicht endlos“, Roman;
„Der Puppenspieler oder Lockfrequenz Hertz“, Liebesfall in Variationen, Szenen.
Barfuß
(Auszug)
Die Nachzüglerin, ungeduldig, wollte ihre Geschwister einholen, überholen. Sie lernte klettern. Ihre nackten Zehen hakte sie in den Maschenzaun, krallte ihre Finger an Querstreben, schob ein hölzernes Fenster zur Seite und trat in eine weiche Staubschicht. Unter niedrigen Balken lagerten Teile der Vergangenheit in Kisten: zerbrechliche Papiere mit verblichener Schrift, modrige Mäntel, unförmige Hüte, steife Stoffe, ein räudiger Pelz. Kein einziger Schatz.
Durch eine Luke hievte sie sich hinaus auf das Dach, schlich auf allen Vieren sanftpflotig wie eine Katze die steile Schräge über gerillte Ziegel und saß schließlich auf dem First. Ein Moospölsterchen. Rundum Schilf, Eternitplatten, Schindeln, Wellblech, Rauchfänge, Baumwipfeln. Endlose Aussicht. Ein Gedanke wurde zum Ziel: weit fort fliegen ... und eines Tages würden alle staunen, wenn sie die Stimme der Ausgewanderten aus dem Radio hörten.
Das liebste Versteck: der Maulbeerbaum. Im dichten Laubwerk mit Seidenfädengespinnst war das Mädchen nicht zu sehen. Sein Name konnte lang und melodisch klingen oder schroff, und immer hieß das Kommando: „Komm!“ „Sofort" „Hierher!“ „Du musst!“ Ungehorsam nannte es sich und A und E und I und O und U und fühlte sich nicht betroffen. Die Äste trugen die schwere Last von einer Myriade Früchte, jede einzelne Beere bienengroß, zusammengesetzt aus unzählbaren süßen Kügelchen. Nur eine leichte Erschütterung, und die Erde wurde mit einem violettroten Frucht-Teppich bedeckt.
Der Spielplatz war grenzenlos.
Im Herbst erprobten Jugendliche mit Geschrei und Pfiffen ihren Mut in der Scheune. Flink liefen sie die Siebenmeterleiter hinauf, robbten entlang Balken und ließen sich ins gebündelte Stroh fallen. „Keine Angst“, rief Bruder 2 der Kleinen zu und sie wagte sich über Sprossen und Pfosten, sprang und landete federnd, kitzelnd. Die nackten Beine zerkratzten, die Haut brannte erst beim Schlafengehen, aber gegen Tränen sträubte sich A tapfer.
Alice Harmer „Auf dem Dach ist die Aussicht endlos oder die Nachzüglerin“
edition lex liszt12, Oberwart 2020