Sarah Molnar
wurde 2000 in Oberwart geboren. Von Kind an von Musik und Literatur fasziniert, lernte sie Klavier, Cello und Gesang an der Zentralmusikschule Oberwart. Sie studiert seit 2019 Gesang im Bereich Instrumental- und Gesangspädagogik (IGP) sowie seit 2021 Gesang (Konzertfach) im Bachelorstudium an der Joseph Haydn Privathochschule Eisenstadt und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Seit 2021 studiert sie auch Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Beruflich ist sie derzeit als Gesangslehrerin an den Musikschulen in Oberpullendorf und in Deutschkreutz tätig.
Neben ihrer Arbeit als Lehrerin und dem Studium entdeckte Sarah Molnar wieder ihre Liebe zur Literatur und zum Schreiben. In der Anthologie Growing Pains. Texte über das Erwachsenwerden erschienen 2023 im Verlag Danzig & Unfried auf Englisch die beiden Kurzgeschichten Vanessa, burn und growing up, grown up.
Relikt
(Auszug)
Die Geschichte eines Hauses beginnt unter dem Gerüst. Dann ist der Boden locker, bereit für das Kommende. Die Erde schafft immer Platz, irgendwann und für irgendetwas. Macht sich bereit für das Gewicht eines Gerüstes, das auf ihr ruhen muss. Geschaffenes zieht sich zurück, das Feld wird geräumt und es wird Platz gemacht für die Steine einer Mauer, für das Gewicht eines Giebels. Ja, dann beginnt das Sein: man schafft Leben mit toten Objekten und fängt zu leben an. Du in deiner Vergangenheit, du in deinem Jetzt. Alle Menschen sind an Objekte gebunden. Beginnt das Leben eines Menschen, sobald er seine eigenen Wurzeln schlägt? Ist eine Nabelschnur die Wurzel des Mutterleibs, die erste Wurzel, die uns das Überleben erst ermöglicht? Die Antwort scheint klar und doch nennen wir uns freie Menschen. Im Sein und im Werden und im Übergang zum Nichts – wir reden uns Freiheit ein, doch sind gebunden. Was wären wir ohne die Glieder, die uns zusammenhalten … Alles in der Welt wird ineinander verknotet aufgefunden, ein roter Faden des Schicksals oder ein Vertrag, der einen ans Überleben bindet. Gebunden an den Staat, verwurzelt in einer Familie, kein Entkommen von der Verantwortung und dem Wissen, dass diese Wurzeln und dieses Festwachsen immer weitergegeben werden müssen. Sieh es als Pflicht oder als Verantwortung, als Schuld, oder sieh es nicht ein und ersticke die Flamme ganz.
Im Blumenbeet verbrennen Reste deiner Seele. Und im Kreuz und in den Knien und im Nacken spürst du das Brennen des Fiebers.
Er ist bei dir, wohin du gehst. Vor vielen, vielen Jahren, eine Erinnerung aus der Kindheit: die Wanderung mit den Großeltern auf den Berg, mit den Gondeln bergab. Als dein Großvater dir damals zum ersten Mal von einer Höhle im Baum erzählt hat, von einem geheimen Versteck, in dem ein Fuchs das ganze Jahr über wohne. Du hast sofort die Formen seiner Augen erspäht, in den Mustern des verwitterten Holzes, das mit jedem Wort lebendiger geworden ist. „Manchmal geht er ins Tal“, hat dein Großvater erzählt, „und stiehlt Schmuck, den er in seinem Loch aufbewahrt. Es ist wie eine Schatzhöhle. Die keiner finden kann.“ Keiner außer er und du. Strahlend azur-blaue Augen, die dich angeblickt haben, ein Grinsen im Gesicht wie im Wunderland.
Wenn du dich an deinen Opa erinnerst, dann siehst du ein Kind. Du hast dich wie ein Schatz gefühlt, begehrt und gesucht. Der Blick, der wertvoller war als alles, was danach kam - er ist dir in Erinnerung geblieben. Und die Krankheit haftet an dir wie ein Schatten. Bald wird sie dich vollkommen einbremsen. Die Zeit stirbt vor deinen Augen, schmerzhaft langsam. Und du, du fühlst dich ihm näher als je zuvor.
Und du bist noch dort, wo er früher gelebt hat, hast dich in der Erinnerung an ihn vergraben. Überall bist du umringt von toten Wurzeln. Deine halbe Nachbarschaft wurde in den letzten Jahren ausgerottet, der Schimmel verteilt sich in immer näherkommenden Kreisen wie die Pest. Die Einengung ist spürbar … du fühlst dich beobachtet in deinen langsamen Bewegungen. Doch vor allem spürst du es am Wind, am eisigen Atem, der die Fensterläden jeden Morgen gegen die Wände knallt, der die Vorhänge zur Seite drängt wie ein gnadenloser Einbrecher. Er bereut nichts, denn wie soll er auch – er kommt und geht, wie er will. Ist nicht mehr als ein Gedanke. Ein Ziegelstein deiner Wohnzimmerwand ist abgewetzt vom Missbrauch, von den Schlägen, die er jeden Tag dulden muss. Bald würde auch dieser Ziegel nur mehr eine Staubwolke sein, die vom Wind mitgetragen wird. Und dann wird ein weiterer Riss in deiner Fassade sein: Die altmodischen Spitzenvorhänge flattern wild, als ob sie jemand zur Seite reißen würde, um hineinzuspähen. Und die Zeitspanne, in der du seine Gegenwart spürst, verlängert sich mit jedem Tag. Und immer öfter strömt die Erinnerung in deinen dürren Körper, wie eine schmerzhafte Inhalation. Du wartest.
Ja, aber du liebst den Wind, der jeden Morgen in dein einsames Heim dringt. Du lebst dein Leben um ihn: in deiner Routine öffnest du alle Türen und Fenster um ihn zu empfangen, den einzigen Besucher in deiner Einsamkeit. Auch wenn du dich in der Wärme des Kaminfeuers und der dutzenden weichen Decken befändest, würde er in deinem Umkreis verharren wie ein hartnäckiger Fleck auf der Brille, den man nicht mehr wegwischen kann. Da draußen ist er irgendwo. Hier verharrt er familiär in deiner Vision wie die elende Winterdunkelheit, die nie wieder Licht mit sich bringen wird. Doch er bringt Veränderungen mit sich, jeden Tag. Veränderungen, die inzwischen so vage sind, dass du in Gefahr gerätst, sie nicht mehr zu bemerken.
Der erste Blick in den Spiegel verrät sie dir: ein fast unmerkbarer Tropfen von getrockneter Schwärze im Mundwinkel. Vage denkst du zurück an die Nacht, an die Träume, die dich geplagt haben. Seit Jahren kannst du keine Nacht verbringen, ohne von der Gefangenschaft des Alp auf deiner Seele heimgesucht zu werden. Da ist er, der stumme Beobachter in der Ecke deines Zimmers! Den du niemals ganz erblicken kannst, in deinem Tunnelblick. Fast denkst du sein Lächeln zu erkennen, aber dann … ein hartnäckiges Husten und du wirst aus dem Gedanken gerissen. Es hat Tage gedauert, bis du gemerkt hast, dass die grauenhaften Geräusche in der sonst stillen Nacht aus eigener Brust stammen. Die Erinnerung, die er bringt, ist jene aus deiner Kindheit, deiner Jugend. Ein stummer Film, der Ausschnitte aus deinem Leben vor deine Augen projiziert. Heute Nacht kehrte alles wieder, als wäre es greifbar und doch nicht ganz – ganz kurz davor.
Er ist vor dir gestanden, hat dich mit seinen azurblauen Augen angesehen. Es war ein Streit, euer erster, später wusstest du, dass es euer letzter war. Als die Nachricht kam, baute sich ein Film auf: dein Großvater, der Schnitt an der Hand, das Geräusch des Abflusses, als das Blut in der Badewanne runtergespült wurde ... Blut kann man nicht riechen, aber du denkst selbst jetzt noch das Metall in der Luft zu riechen, wie es in deine Wahrnehmung schneidet wie ein Messer, schwer in deiner Handfläche. Schuld wiegt viel und du verankerst das Gewicht in dir, wirst eins mit ihr und lässt es zu: du stehst jetzt im selben Zimmer, in dem ihr das letzte Gespräch geführt hattet. Etwas liegt in der Luft und du schluckst, als du in den Spiegel siehst. Du fühlst die gleichen Worte in deiner Kehle stecken wie Jahre zuvor. Die Erinnerung strömt in dich ein in der Form einer Ewigkeit. Was hast du nicht alles vergessen? Du fühlst dich unendlich in deinen Jahren und doch wieder wie ein Kind … niemand kann sie dir nehmen. Der Gedanke daran bringt dich zum Lächeln und du betrachtest das Gesicht im Spiegel: ja, dieses war auch das seine, du erkennst es wieder… du findest Schönheit daran, an der Erinnerung, an der Vergänglichkeit, an ihm in deinem Spiegel. An ihm und an der Verwesung deiner selbst.
Mit diesem Gedanken begibst du dich an das Fenster, wie gestern und vorgestern und davor. Der Ausblick zeigt nichts anderes als eine menschenleere Straße und die Vorhänge der Nachbarn, die sich ab und zu sachte zu bewegen scheinen. Doch auch heute wartest du, lässt die Kälte an dir nagen und nagen und wartest auf den Nachteinbruch. Der Winter kann nicht früh genug kommen. Du sitzt in der schwerelosen Stille, als ob auch sie ein Charakter wäre. Der Ablauf scheint in Stein gemeißelt, denn hier sind deine Wurzeln. Doch haftet an diesem Tag auch etwas Neues, etwas fast Greifbares. Du wartest.
Der Nachteinbruch kommt früh. Heute ist der kürzeste Tag des Jahres. Die Umgebung wird windstill und du atmest auf. Etwas kratzt an der Innenseite deines Brustkorbs, als du tief Luft holst. So als ob es sich in deiner Brust eingenistet hätte und dich am Atmen hindern wollte ... Stundenlang kratzt und nagt es in dir, dieses unbekannte Etwas. Bei einem besonders langen Schluchzer kommen die Krallen dazu. Du rührst dich nicht, akzeptierst den Schmerz und wartest. Deine größte Last ist die Gabe der Geduld.
Und der Besucher kommt. Er reißt die Fensterläden auf und hier klopft er schon: gleißend, messerscharf, der bröckelnde Ziegelstein an der Wand. Ein blaues Licht durchschneidet die Schwärze der Nacht. Du merkst an der Gewalt des Eindringens, dass es dieses Mal anders ist. Die Schwärze, merkst du, ergießt sich aus deinen Poren.
Und ein Leben scheint deinen Körper zu füllen, wie du es noch nie gespürt hast. Es ist gleißend und wohlwollend und gut und klebrig wie zäher Honig. Dein Körper ist nicht mehr als ein Gefäß dafür, für den Einbruch der Erinnerung, des Lichts und der Wärme, der Berührung, des Schmerzes und der Ekstase. Und wie es durch dich tanzt! Wie es schwebt! Wie es sich schließlich im Inneren deines Brustkorbs verwurzelt! Du spürst den Schatz der Erinnerung in der Hebung deiner Brust mit jedem Atemzug. Alles weitet sich aus, bis du die Umklammerung der Hitze kaum ertragen kannst, fast nicht mehr, nicht mehr lange und dann, und dann …
Erlösung. Der Besucher ist das Relikt, er reißt dich nach vorne. Du folgst ungewollt, geduldig und unbewusst. Du folgst und betrittst mit knirschenden Schritten eine lodernde Welt. Du folgst und eine Wurzel reißt entzwei.
Die Tür knallt hinter dir zu. Die Nacht grinst und hat gewonnen.
Er steht nun vor dir, wie du ihn im Holz gesehen hast, dein eigenes Gestern, das dir bis hier gefolgt ist. Der Fuchs, die Vergangenheit, die Konfrontation. Die azur-blauen Augen so groß, dass sie auf eine etwas groteske Weise hervorquellen, als würden sie näherkommen wollen. Und doch, Wärme, wie du sie nur von einer Person kennengelernt hast, die du tief im Brustkorb noch immer spüren kannst. Wie auf Lauer wartet er und beobachtet dich, wartet auf deine nächste Bewegung. Blaue Augen, die aussehen wie deine. Er wartet wie ein Beschützer:
Ein Seil hängt vom Dachbalken und du stehst da und starrst in leere Bläue. Die Luft ist abgestanden, der Raum windstill, doch er dreht sich in Zeitlupe um die eigene Achse. Draußen am Fensterbrett sitzt ein Spatz und starrt herein. Plötzlich erinnerst du dich an die Meisenknödel, die deine Großmutter immer vors Küchenfenster hängt. Dutzende Vögel jeden Morgen, die vorm Fensterbrett auftauchen. Du stellst dir vor, wie der Spatz mit Wucht gegen das Fenster fliegt, bis es an den Ziegelstein der inneren Wand kracht. Wie er hereinfliegt und anfängt, an dem leblosen Körper zu nagen, durch die zerrissenen Kleider zu wuseln und einen Teil der Lunge zu punktieren. Sich im Blut badet, das von den Schnittflächen an seinen Handgelenken hervorströmt. Die Lache Blut ruht wie ein Kunstwerk vor deinen Fußspitzen und schleicht sich unter deine Sohlen. Vage spürst du, wie die Flüssigkeit deine Socken tränkt. Die Fliegen kreisen durch die Luft. Der Krankenwagen braucht, vermutlich, eine halbe Stunde in Kleinstadtzeiten, das heißt, die Zeit vergeht ewig langsam und du kannst in die leeren blauen Augen starren, dieselben wie deine, bis dir schlecht wird, bis du nichts mehr von der Person darin siehst, die du einst geliebt hast. Die Kirchenglocken läuten zu laut und zu nahe. Sein Auto steht vor der Tür und ist in deinem Kopf nur einen Handgriff entfernt.
Schwarz um deine Lippen, unter deinen Nägeln. Eingebettet in Gebete und in die Routine. Deine Hände liegen in der Erde, als wären sie daran gekettet. Du denkst deine Schuld begraben zu haben, aber die heile vergangene Welt hat dich nur so lange umhüllt, bis sie selbst es nicht mehr geschafft hat. Der Wind jagt in deinem Nacken das Fenster an die Wand und du hörst die restlichen Teile des Ziegelsteins auf den Boden bröckeln. Ein Schlussstrich. Du vernimmst ein Geräusch, fast wie ein Aufseufzen der verstorbenen Gesichter. Die Erde beginnt unter deinen Handflächen zu beben und legt eine Vision frei.
Hier ist er, der Gast im Nacken. Offenbart vor dir, wie eine Gabe. Unter deinen Fingern, in deinem Speichel, eingebettet in die Stränge namens Wir. Unter Handflächen spürst du das Potenzial der Vergebung. Du betest vor deinem Gott ein letztes Mal und küsst die Erde mit deinem erdigen, ascheschwarzen Mund. Das Feuer kommt durch ein Wort, kommt durch die Akzeptanz. Alles bebt und du hast das Leben noch nie so gespürt wie jetzt. Die Flammen hüllen dich in wenigen Sekunden ein. Die Kälte erlischt. Du ergibst dich: brodelnd gehst du darin unter, in der Gewalt des Lebens. Die Gesichter der Verstorbenen hüllen dich ein in der heißen Umarmung des Feuers. Vergebung tut weh. Dunkelheit strömt aus jeder deiner Poren, wie eine Gabe für den Himmel zerbröselt dein Körper in die Erde, ein Opfer deiner selbst. Einen Moment lang bist du gleißendes Licht und dann! Die Erde schluckt deine Wurzeln, bis du Teil davon bist.
Deine Geschichte endet und die Erinnerung endet mit dir. Du trägst viele Farben, schwarz und braun und weiß und grün, wirst zu einem wurzellosen Teil einer Vergangenheit. Du bist an nichts gefesselt und hinterlässt nichts. Niemand ist an dich gefesselt. Wenn der Wind an den Häusern vorüberzieht, ist dein Atem nur ein Teil seines Charakters, nicht mehr und nicht weniger. Irgendwann wird keine Erinnerung mehr deinen Namen tragen, wirst du nicht mehr sein als die Luft, die in Häuser strömt und die Fensterläden an die Wände treibt. Und wenn keine Erinnerung mehr in deinem Namen steht, wenn dein Name nicht mehr gerufen wird, kein Teil von dir mehr gefunden werden kann, dann weißt du, dass du vergangen bist.
Dein Großvater steht hinter dir und hält dir die Augen zu. Nichts als Dunkelheit und du fürchtest dich, aber er ist ja da. Und er wird dich vor der Dunkelheit immer beschützen. Es ist ein kalter, langer Winter und er hat dir ein Puppenhaus gebaut. Als er die Hände senkt, müssen sich deine blauen und lichtempfindlichen Augen zuerst an die Helligkeit gewöhnen, aber dann siehst du es und lachst vor Freude. Das Puppenhaus ist aus Holz mit bunten, selbstgebastelten Möbeln. Es sieht aus wie dein Zuhause, wie euer Zuhause. Es muss eine Ewigkeit gedauert haben, es zu bauen. Du umarmst deinen Großvater, seine bandagierten Hände streichen dir unbeholfen über den Kopf. „Du hast den wichtigsten Teil übersehen“, er dreht das Puppenhaus vorsichtig, „den Beschützer des Hauses“. Auf der Rückseite steht ein Fuchs vor der Tür. Sein Lächeln bereitet dir zuerst Angst und du trittst einen Schritt zurück. Willst dieses Grinsen nicht sehen. Aber dein Großvater steht hinter dir und hält dich an beiden Schultern. Sein Griff ist fest, aber schützt dich. Du hörst das Wunderland-Lächeln in seiner Stimme. „Das ist dein Schatz. So wie du meiner bist. Jetzt kann dir nichts mehr passieren.“
Junge Literatur Burgenland
Era Erlinghagen, Sarah Molnar, Paula Römer, Anna Carina Roth
Band 8
ISBN:
Hg.: edition lex liszt 12, 2024