abramovic
© 2020 Hans Wetzelsdorfer

Sanja Abramović wurde 1982 in Karlovac geboren und wuchs im kroatischen Kurort Topusko auf, nahe der bosnischen Grenze. Seit 1991 lebt sie mit ihrer Familie in Österreich, seit 1992 in Eisenstadt. Nach dem Studium der Germanistik und Slawistik begann sie zu unterrichten: Deutsch als Fremdsprache, Deutsch und Kroatisch. Die Bruchstellen in ihrer Biografie führten bereits in jungen Jahren zu einer melancholischen Auseinandersetzung mit Erinnerungen, der Frage nach Heimat und Heimatlosigkeit, zu einer prinzipiellen Skepsis der Sprache gegenüber, zu unzähligen Verortungsversuchen ihrer selbst. Diese zentralen Themen bestimmen ihre Kurzprosa und Lyrik. 2003 wurde Sanja Abramović beim Literaturpreis „Schreiben zwischen den Kulturen“ der Edition Exil ausgezeichnet, 2016 mit dem zweiten Platz beim Lyrikpreis der Energie Burgenland, 2018 wurde ihr der burgenländische Literaturpreis zuerkannt. Sie veröffentlicht in Zeitschriften und Anthologien.

Fortune teller

... Meine Erinnerung reicht nicht weiter als drei Generationen zurück. Mutter, Großmutter, Urgroßmutter. Es gibt keine Aufzeichnungen, keine Fotos, meine Familie ist kaum dokumentiert. Diese Frauen existieren in meinem Kopf. Ich habe nur die Sprache meiner Gedanken, um mich in diese Linie einzuordnen. Ich kann mir aus der Erinnerung heraus eine Herkunft erschreiben. Die Erinnerung, das sind die Wurzeln.
Die Großmutter ist eine hagere Frau. Sie trägt Kopftuch und hat einen raschen, staksenden Gang. Sie wohnt im Haus gegenüber und ihre Sprache umfasst drei Tonlagen: aufgeregt prasselndes Geschimpfe, jammervoll gurrendes Wehklagen oder fauchendes Fluchen. Ihr Kopftuch bindet sie mehrmals am Tag, zieht hektisch das Tuch herunter, faltet, macht den Knoten immer ein wenig fester. Ihre Finger sind flink, ihre Knoten sorgfältig. Abends, wenn die Tücher abgelegt werden, werden die Haare geordnet, entwirrt, von Nadeln befreit und unter vier Augen ausgebreitet. Mir ist, als würde ich die Frauen nicht kennen. Ihre Haare beschämen sie und auch mich machen sie verlegen. Ich will wegsehen, aber ich träume, dass sie ihre Haare offen tragen.

Die Großmutter zieht ihre Röcke übereinander an, schwere dunkle Stoffe. Wenn Baba Mare sich auszieht, ist sie wie eine Matrjoschka. Immer, wenn ich glaube, sie hätte die unterste Schicht erreicht, bindet sie ihren Rock auf und es kommt ein neuer zum Vorschein. Den letzten Rock, den Unterrock, erkennt man an der weißen Farbe.
Ich knüpfe Satzteile aneinander, knote mir dabei die Finger wund. Beistriche setze ich blind wie eine Verliebte. Je mehr Zeit vergeht, desto kürzer die Abstände, desto blinder die Beistriche. Ich verliere mich in Satzanfängen. Mein Leben ist eine Rumpelkammer. Ich hole Vergangenheit hervor, abgelegte Menschen, verstaubte Gedanken, die Erinnerung an ein Bauchgefühl, ein Beistrich nach dem anderen, ganz planlos, als sei alles ein Rätsel, ein Wortgitter, ein Puzzle, aber ich weiß, am Ende fehlt ein Stück. Tausend Teile, doch vor dem Punkt, da ist nicht mehr als eine Leerstelle. Ich lerne geduldig zu sein, in Leerstellen zu passen. Jeder Gedanke ist ein Warteraum. Immer noch vertraue ich mehr den Teilen, die fehlen.

aus dem Buch:
Junge Literatur Burgenland
Sanja Abramović - Raoul Eisele - Bea Schmiedl - Daniel Stögerer
Band 4
Hg.: © edition lex liszt 12, 2020

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