simonsen

Beatrice Simonsen lebt als Autorin, Literaturkritikerin und Kulturvermittlerin in Wien und im Burgenland.Herausgeberin von zwei Bänden „Grenzräume“ (Südtirol 2005 und Burgenland 2015) sowie “Kunst und Literatur. Der Literatur Raum im Bildhauerhaus in St. Margarethen im Burgenland“ (2019). Literarische Publikationen in Anthologien, Zeitschriften und im Hörfunk. Konzipiert und organisiert seit 2013 synergetische Veranstaltungen an besonderen Orten unter der Marke „Kunst und Literatur“.

Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV) und von Literaturkreis PODIUM.

Land der Verheißung

(Ausschnitt)

Li stob in alle Himmelsrichtungen davon. Überall war es anders, überall war es gleich. Überall Menschenhand, überall die Mühe des kleinen Lebens, überall die Sinnsuche, überall der Kampf der Begierden, überall der Zahn der Zeit. Die Riesin schritt darüber hinweg mit ihren Riesenfüßen, tat niemandem weh, leicht und unsichtbar wie sie war. Schaute mitleidig die Unglücklichen an, freute sich an den Festen der Glücklichen, wollte etwas Besonderes aus der Welt mit nachhause bringen. Schwankte zwischen den Schönheiten der Erde und dem außergewöhnlichen Handwerk. Entschied sich für die Symbole des Friedens. Packte weiße Tauben in den Rucksack, einen Regenbogen und etliche Bildchen mit dem Zeichen für nukleare Abrüstung, die sie auf ihrem Weg wie Brotkrumen verstreuen wollte, wie einst die im Wald verlorengegangenen Kinder Hänsel und Gretel, von denen Li wusste, dass man sie wiedergefunden hatte. Nicht weil man nach ihnen suchte, sondern weil sie schlau genug waren, sich selbst zu retten.

Mit allerlei Vorbildern im Kopf kehrte die Riesin der Welt den Rücken und widmete sich dem Herkunftsland, in dem die Verheißung ausständig war. Die verfeindeten Lager stritten sich nach wie vor und Li stellte sich breitbeinig dazwischen. Fels um Fels schleppte sie an den Rand eines Wüstenkraters, immer zwei und zwei lehnte sie aneinander. Es polterte und donnerte gewaltig, niemand verstand warum. Die einen dachten an Mord und Totschlag und verbarrikadierten sich zu Hause. Die anderen dachten an tektonische Verwerfungen, stürzende Berge, Abgründe im Meer und liefen auf die Straße. Alle fürchteten um ihr Leben. Doch nichts geschah, kein explodierender Bus, kein Beben der Erde, nur Li, die abgeflachte Felsblöcke heranschleppte, immer zwei und zwei in einer langen Reihe aneinanderlehnte, dann mutig einen Regenbogen darüber spannte und die weißen Tauben mit leichter Hand in den Himmel streute. Man staunte über das schöne Bild der flatternden Vögel im wolkenlosen Blau. Schnell kramten die Menschen nach ihren Sonnenbrillen, um das Ziel ihres Fluges hinter dem Bogen der flimmernden Spektralfarben nicht zu versäumen. Aber wie sollten sie das Wunder verstehen?

cover_

Zum Seitenanfang
Literaturweg und Literaturtage in Kohfidisch literaturweg.at