Foto © Sabine Klimpt

Bernadette Németh 

wurde 1979 in Wien geboren, lebt in Breitenbrunn. Sie wuchs zweisprachig mit Deutsch und Ungarisch auf und schreibt seit ihrer Kindheit Prosa und Lyrik, was sich auch während ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit als Allgemeinmedizinerin nicht änderte. 2010 erschien ihr erster Kurzgeschichtenband „Der zweite Blick“, 2013 ihr Kinderbuch „Elmedin und der Zaubertukan“. Ihr Romandebüt „Der Rest der Zeit“ kam 2017 im Verlag Wortreich heraus.
Seitdem erschienen zwei Sachbücher: „111 Orte für Kinder in Wien, die man gesehen haben muss“ (2019) und „111 Orte rund um den Neusiedler See, die man gesehen haben muss“ (2021).

 

In einem Arm ein Kind, im anderen die Säge

(Auszug)

  

„Er hat keine Schmerzen“, sagte der Arzt und das war mir am wichtigsten: keine Schmerzen. Er würde in der Nacht nicht mehr schreien, weil er im Stacheldrahtzaun hängenbleibt oder vom Schein der Taschenlampe im letzten Moment gestreift wird, bevor sie schießen. Das ist etwas, das ich übernommen habe. Ich träume oft, dass ich flüchte, wovor, weiß ich nicht genau, aber der Verfolger holt mich ein oder ich muss durch einen schmalen Spalt klettern und schaffe es in letzter Sekunde nicht, davonzukommen. Mein Vater war mit siebzehn aus Ungarn nach Österreich geflüchtet, „... meine beste Entscheidung, Zsuzsanna“, sagte er immer. Die meisten kamen über die Brücke von Andau, er durch den Schlamm eines unspektakulären Rübenfeldes bei Pamhagen – durch diese Landschaft, die mich sommers zum Weinen bringt ob ihrer Schönheit. Wenn ich dort hindurchfahre, trage ich das Gelb in meinen Armen, pflanze es in Reihen, schüttele es, damit es wogt.
Mit einem Pinsel male ich das Blau in meine Gedanken, selbst im Herbst, wenn die Stunden schwer aus den Hufen der Zeit fallen und das Licht hinter der Decke schläft, sehe ich die Farben, wenn Zweifel über die Felder hüpfen wie hinkende Krähen. Ich habe ein Pferd gestohlen, es heißt Fantasie, schon als Kind versteckte ich es in meiner Tasche, und es bringt mich überallhin, selbst wenn das Licht noch hinter der Decke schläft und ich mich auf das kalte Feld beuge und mein Ohr zu den Stunden halte und höre, wie es rauscht.

Seine Familie hatte meinem Vater nie verziehen, dass er gegangen war; weniger, weil er keine Enkelkinder aus dem Nachbardorf brachte, die zu Ostern nach roten Eiern hätten suchen können, sondern weil er die Familientradition einfach gebrochen hatte. Abschütteln konnte er sie nie.

 

 

Junge Literatur Burgenland

Anna Bauer, Lisa Bolyos, Kerstin Istvanits, Bernadette Németh
Band 7
ISBN: 978-3-99016-254-5

Hg.: edition lex liszt 12, 2023

 

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