Erlinghagen Era

erlinghagen eraEra Erlinghagen wurde 1983 in Eisenstadt geboren, hat Germanistik und Hungarologie an der Universität Wien studiert. Sie arbeitete mehrere Jahre bei internationalen Medien und Kulturinstitutionen im Bereich Redaktion und PR, bevor sie an der Universität Wien promovierte, wo sie seit 2013 an der Abteilung für Finno-Ugristik als Literaturwissenschaftlerin in der Forschung und Lehre tätig ist. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf Themen aus dem Bereich der Literatursoziologie und Kulturpolitikforschung – insbesondere im Kontext von Minderheitenliteraturen. Sie lebt mit ihrer Familie im Nordburgenland. Die Texte der vorliegenden Anthologie sind ihr literarisches Debut.
 
Foto © Thomas Erlinghagen 
 
 
 

 

Viszontlátásra!

„Meine Tochter hat einen Termin zum Haareschneiden um 13:30 Uhr… Esther Weinberger. Bei Tünde.“ Rita zog ihrer Tochter die Jacke aus und das Gummiband aus den Haaren, die nun etwas zerzaust herabhingen. Das Mädchen lächelte schüchtern. Währenddessen kam eine Friseurin auf sie zu, begrüßte Mutter und Tochter und deutete ihnen, ihr zu folgen. Anfangs war Rita unsicher, ob die Friseurin sie erkannte, schließlich kam sie nicht so häufig in diesen Salon und das letzte Mal – vor ungefähr zwei Wochen – hatte sie auch nur ihre Mutter begleitet. Sie kam eigentlich immer nur mit ihrer Tochter hierher, sie selbst blieb ihrer Friseurin in Purbach treu. Aber mit Kindern und für Senioren war dieses Friseurgeschäft deutlich unkomplizierter – es war im Ort, Termine waren meist auch kurzfristig zu haben und preislich gab es zwischen den Geschäften heutzutage ohnehin kaum noch Unterschiede.
„Was machen wir heute?“ fragte Tünde und beantwortete damit Ritas Frage. Für einen Moment zögerte sie. Sie hatte sie offenbar nicht erkannt, sie nicht mit ihrer Mutter in Verbindung gebracht. Doch bevor Rita noch etwas sagen konnte, antwortete schon ihre Tochter:
„Nur Spitzen schneiden!“
„Aber Esther, wir haben doch gesagt, wir machen die Haare kürzer…“
„Wie wäre ein kinnlange Bob?“ versuchte Tünde zu vermitteln. Die Tochter rümpfte die Nase, Rita hingegen sah ihren Moment gekommen, sich zu offenbaren und Tünde an sich zu erinnern:
„Már olyan régóta növeszti a haját
, hogy soha nem akarja levágatni, pedig már nagyon kéne…“
Tünde sah Rita überrascht an.
„Te
beszélsz magyarul ? Nem is vettem
Rita wurde rot. Natürlich hatte Tünde nicht gemerkt, dass sie Ungarisch konnte. Im Gegensatz zu Tünde hatte Rita im Deutschen keinen Akzent und machte keine Grammatikfehler, da es ihre Muttersprache war. Wobei das wörtlich genommen ja nicht stimmte, denn die Sprache, die Rita von ihrer Mutter gelernt hatte, war Ungarisch, und auf Ungarisch hatte sie vermutlich sehr wohl einen Akzent und machte ganz sicher Grammatikfehler – vielleicht nicht gleich, aber früher oder später. Dann fehlte ihr ein Wort oder sie verdrehte die Wortstellung im Satz. Zuerst wurde sie immer gefragt…
„Mióta élsz kint? Nagyon jól beszélsz németül!“
Alle gehen immer davon aus, dass ich auch aus Ungarn stamme, dachte Rita, dass ich irgendwann nach Österreich ausgewandert bin, einen Österreicher geheiratet habe und deshalb mit meinen Kindern Deutsch spreche. Wie gut ich Deutsch kann! Na, danke…
Rita antwortete nur kurz, dass sie in Oberpullendorf geboren worden sei und die Sprache von ihrer Mutter, einer 56-er Ungarin, gelernt habe. Tünde nickte wissend. Ritas Tochter Esther starrte währenddessen die beiden Frauen durch den Spiegel an und verstand kein Wort.
„Wir schneiden die Spitzen, Mama, oder?“
„Ja eh, die Spitzen,“ lächelte Rita, „de azért lehet nyugodtan vágni belőle ,
„Rendben.“ antwortete Tünde und warf Rita dabei allerdings einen seltsamen Blick zu. Rita konnte nicht entscheiden, ob er missbilligend oder unsicher verwirrt war. Tünde befeuchtete die Haare des Kindes, das erwartungsvoll die Bewegungen der Friseurin im Spiegel beobachtete, und Rita hoffte, dass ihre Tochter keinen Aufstand machen würde, wenn die Haare nun doch kürzer ausfielen als sie es sich gedacht hatte. In der Regel war Esther ein unkompliziertes Kind, das nicht sehr stur war. Sie lebte in ihrer kleinen Welt, konnte stundenlang allein im Vorgarten mit scheinbar nichts spielen – ein Stock, ein paar Steine, vielleicht ein Stück Kreide – und legte wenig Wert darauf, was sie anhatte oder wie ihre Haare aussahen. Erst seit sie diesen verfluchten Disneyfilm gesehen hatte, musste sie auf einmal ihre Haare wachsen lassen, um einen „Elsazopf“ machen zu können. Dass sie nicht einmal annähernd genug Haare auf ihrem Kopf hatte, um einen ordentlichen, eingeflochtenen Zopf zustande zu bekommen, war ein Detail, mit dem sich Esther nicht aufhielt.
„Csak a rajzfilm miatt akarja a hosszú hajat, pedig nem nagyon praktikus…“ sagte Rita zu Tünde fast schon entschuldigend. Im Grunde hatte sie ihr Kind vor der Friseurin angelogen und ihre Geheimsprache benutzt, um über Esthers Kopf hinweg eine Entscheidung zu treffen, die aber ganz genau Esthers Kopf betraf und dabei ganz und gar nicht Esthers Kopf entsprach. Rita bekam Zweifel. Dabei tat sie das oft genug, dass sie Dinge, die nicht für Esthers Ohren bestimmt waren, in einer anderen Sprache sagte – auf Ungarisch, wenn sie mit ihren Eltern, Esthers Großeltern sprach: „Nem kell még cukrot is tenni az eperre, jó lesz neki így is!“ oder auf Englisch, wenn es etwas zwischen ihr und Esthers Vater war: „Don’t forget to place the gift from the tooth fairy!“ Esther schien es nie zu stören, wenn Rita neben ihr, über sie in für sie fremden Sprachen sprach. Wobei sie ihr nicht ganz fremd waren, denn sie erkannte sehr wohl, wann Rita Ungarisch sprach. Oder wann andere Menschen Ungarisch sprachen, selbst wenn sie nicht verstand, was sie sagten. So wie auch Rita jeden noch so kleinen ungarischen Akzent bei Menschen erkannte und mit unglaublicher Treffsicherheit richtig lag – als Kind hatte sie die verdächtigen Personen stets ganz ungeniert auf Ungarisch angesprochen, die dann meist erfreut auf Ungarisch geantwortet hatten. Als Erwachsene tat sie das nicht mehr.
Rita beobachtete, wie die blonden Haarsträhnen zu Boden fielen. Esthers Lächeln schien schon etwas eingefroren. Tünde schnitt konzentriert vor sich hin und nahm Ritas Einladung zum Gespräch dankbar an.
„Minden kislány hosszú hajat akar! És
aztán hiszti z nek , ha mosni kell, fésülni kell. De persze
manapság már mindent megkapnak a gyerekek hallod H át olyan szófogadatlan gyerekek ülnek
itt nálam a széken, nem hiszed el! A te kislányod egy kis angyal, de ezek az osztrák gyerekek
képtelenek csendben ülni és az anyukák nem szólnak rá juk , mert azt persze nem
Nun fror Ritas Lächeln ein. Sie hasste es, wenn Menschen über die Kinder heutzutage sprachen. Oft und gerne taten das Menschen, die selbst keine Kinder hatten. Aber ganz abgesehen davon hasste sie Situationen wie diese mindestens genauso. Situationen, in denen sie wie eine Komplizin betrachtet wurde, wie eine von uns, vor der man über die anderen sprach, im Schutz der für sie unverständlichen Sprache, sich über deren Eigentümlichkeiten, nervigen Angewohnheiten, Charakterschwächen ausließ, die natürlich stets an die Nationalität geknüpft waren – die geizigen österreichischen Männer, die überforderten österreichischen Mütter – Situationen, in denen eine Tünde vergaß, dass Rita ja auch eigentlich eine von denen war, weil sie ja Ungarisch sprach und nur nickte, zuhörte und wenig antwortete. Weil sie auch nicht wusste, was sie hätte antworten sollen. Und weil sie jedes Mal, wenn sie ihren Mund aufmachte und vor einer anderen Person als einem direkten Familienmitglied Ungarisch sprach, Angst hatte, einen Fehler zu machen.
„Bár csak én beszélnék olyan jól németül mint te magyarul magyarul!“ seufzte Tünde, die sich nun über den mühsamen Small-Talk mit ihren deutschsprachigen Kundinnen beschwerte. Männer, so sagte sie, seien diesbezüglich angenehmer, da sie nicht plaudern wollten.
Ja, dachte Rita, wenn du so gut Deutsch sprächest, wie ich Ungarisch spreche, dann würde dir das auch nichts helfen…es macht alles nur schwerer!
Tünde zückte den Föhn und blies in Esthers feine Haare.
„De mondd csak, miért nem beszél a lányod
magyarul?”
Die unausweichliche Frage. Ritas Magen verkrampfte sich leicht. Ja, warum? Warum konnte Esther nicht Ungarisch?
„Hát…“
So oft wurde Rita danach gefragt und immer noch hatte sie nicht die perfekte Antwort parat, die keine Nachfragen nach sich zog. 
„…mert én sem tudom elég jól a
nyelvet. Így meg nem lehet tanítani. É s a férjem sem beszél
magyarul. Nincs kivel beszéljen rajtam kívül… egyedül nem tudom megtanítani neki…
Das war die Wahrheit und auch nicht. Spätestens jetzt musste Tünde aber merken, dass es insofern die Wahrheit war, als Rita die Sprache tatsächlich nicht fehlerfrei beherrschte – nicht sicher genug beherrschte, wie sie meistens hinzufügte, um ihren Punkt zu verdeutlichen – es sei ja nicht ihre Erstsprache! Denn während sie als Kind Ungarisch stets ihre Muttersprache nannte, schien ihr diese Bezeichnung als Erwachsene nicht mehr richtig. Die Sprache ihrer Mutter fühlte sich für sie in manchen Situationen unheimlich vertraut an und schenkte ihr Geborgenheit. Dann wieder schien sie ihr doch unangenehm fremd und ließ sie mit dem Gefühl der völligen Unzulänglichkeit zurück. Und genau das war der eigentliche Grund, warum sie ihrer Tochter die Sprache nicht weitergegeben hatte, obwohl sie es sich vor Esthers Geburt fest vorgenommen hatte. Auch wenn es immer leichter war, die Schuld ihrem Mann in die Schuhe zu schieben, der kein Ungarisch sprach. Oder den Verwandten ihres Mannes, die dem Ungarischen weit weniger Bedeutung und Nutzen zusprachen als einer anderen westeuropäischen Sprache. Kannst du es ihnen verübeln, fragte sie ihr Mann dann auch immer, wenn Rita diesen wunden Punkt ausgrub. Wie viele Leute sprechen denn zum Beispiel Spanisch? Und nur weil bei uns fast alle in der Gastro und im Dienstleistungssektor Ungarisch sprechen… Und dann kniff Rita für gewöhnlich die Augen zusammen und ihr Mann wusste, dass er sein Argument ganz schnell fallen lassen sollte.
Tünde sah Rita mitleidig an.
„Nagyon kár, jaj, milyen kár…pedig milyen jó lenne a kicsinek, ha tudna magyarul!
Végül is ez az
anyanyelve, nem? Szegény kislány…“
Dabei verrieb die Friseurin duftendes Haarwachs zwischen ihren Händen und modellierte einzelne Strähnen in Esthers frisch geschnittenem Bob. Das Mädchen lächelte nicht mehr.
„Nagyon csinos vagy vagy!“ schwärmte Tünde.
Auch Rita war das Lächeln vergangen. Obwohl sie vollkommen beeindruckt von Esthers neuer Frisur war, beschloss Rita nie wieder in diesen Friseursalon zu gehen. Sie wollte nie wieder dieser penetranten Frau begegnen, die sie von oben herab darüber belehrte, wie arm ihr Kind aufgrund seiner beraubten Muttersprache sei. Sie wollte als vierzig Jahre alte Mutter nie wieder von einer Ende Zwanzigjährigen mitleidig angesehen werden, weil sie es nicht geschafft hatte, ihrem Kind ihre eigene Muttersprache, Zweitsprache, Wasauchimmersprache weiterzugeben. Sie wollte sich nicht rechtfertigen müssen. Nicht vor Tünde. Nicht vor der ungarischen Bäckerin. Nicht vor der ungarischen Zahnarzthelferin. Nicht vor der Nachbarin, deren Kinder dreisprachig aufwuchsen, weil der Vater konsequent Englisch mit ihnen sprach, obwohl er kein Native Speaker war, und sie ein ungarisches Au-Pair Mädchen hatten, das natürlich nur Ungarisch mit den Kindern sprach. Selbst deren Kinder lernten Ungarisch, während sie ihrem eigenen Kind ihre eigene Sprache nicht weiterzugeben imstande war…
„Na, akkor hány éves a lányod? Kilenc? Na
mondjuk, hogy hatéves . És akkor még beváltjuk a
pontokat és még az akciós árral számolok, és akkor…nézzük csak… csak…” murmelte Tünde fast schon mehr zu sich selbst als zu Rita, während sie den Sonderaktionspreis für Kleinkinder kassierte, obwohl Esther schon neun Jahre alt und die Frühjahrsaktion im Salon schon längst ausgelaufen war. Rita kompensierte mit einem üppigen Trinkgeld, war aber vermutlich trotzdem deutlich günstiger davongekommen als die Österreicher. Zum Abschied oder als Entschuldigung für die nun wesentlich kürzeren Haare reichte Tünde Esther einen Schlecker.
„Wie sagt man?“ flüsterte Rita fast schon automatisch.
„Danke!“
Tünde lächelte und half dem Mädchen in die Jacke. Bevor sich Esther den Schlecker in den Mund stopfte, grinste sie die Friseurin schließlich noch einmal an und sagte laut: „Viszontlátásra!“„Viszontlátásra!“

 

Junge Literatur Burgenland
Era Erlinghagen, Sarah Molnar, Paula Römer, Anna Carina Roth
Band 8
ISBN:
Hg.: edition lex liszt 12, 2024